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Media-Archiv

Geigenbau Winterling in den Medien

Wenn einer etwas Gutes tut, dann wird darüber gesprochen. Hier finden Sie aktuelle Berichte aus den Medien, die von der Arbeit von Geigenbau Winterling berichten. Ich wünsche Ihnen viel Spaß damit!

Eduard Schwen
in Der Hamburger

Ausgabe Herbst 2010 | Seite 73


Hamburger, die den Ton angeben

Eduard Schwen – Seelsorger und Hüter des Geigenbauwissens

Sich zu verlieben ist aus der Sicht des Biologen eine chemische Überreizung im Hirn, die neurotische Usancen nach sich zieht, vergleichbar mit der Wirkung von Rauschgift oder fünfzehn Liter Trinkschokolade. Wenn ein Geiger oder Cellist sich in ein Instrument verliebt, hält dieser Reiz dabei deutlich länger an; das Gefühl vertieft sich, wird zur Liebe, zu einer Beziehung. Gerät in menschlichen Beziehungen etwas in Schieflage, geht man zum Therapeuten.

Der Streicher, der meint, seine Geliebte verstehe ihn nicht mehr, schreie bei kleinsten Stress-Situationen gleich rum, stehe gar vorm Saitensprung, geht zu Eduard Schwen in den Valentinskamp; in eines der leicht vorgebeugten Gängeviertelhäuser, die den Großen Brand überstanden haben, und drückt hoffnungsvoll die Messingklingel zur Werkstatt. Der Geigenbaumeister mit den hellen Augen, die selten zwinkern, wird mehr mit Intuition als mit dem Verstand verstehen, was genau ein Cellist, eine Geigerin, ein Bassist damit meint, wenn sie sagen: »Es klingt so wolkig! Sie krächzt! Er ist übersensibel! Dornröschen hat den Kopf verloren! Kann man da was machen?« Schwen kann. Auch gern kurzfristig, wenn ein Musiker vor dem Auftritt in der Laeiszhalle hereinweht und Bogen oder Steg in die Notaufnahme müssen. Schwen kennt die Usancen der Verliebten, und bietet neben Neubau, Handel, Vermietung und Expertisen, auch Restaurierung und Klangeinrichtung, die »Optimierung für die individuelle Spielweise«, an. Eben genau die »Beziehungsarbeit«, die mehr mit Empathie als mit Handwerk allein zu tun hat. Auch wenn er persönlich überzeugt ist, Geigen hätten keine Seele – die hätte er sonst sicher schon gefunden, irgendwann in den letzten 34 Jahren, in denen er sich mit Streichinstrumenten und ihrem Innenleben beschäftigt. Seit dem 1.1.2009 ist der 45-jährige Pfälzer nun Inhaber der Geigenbaumeisterwerkstatt Georg Winterling (gegr. 1890), der ältesten der fünfzehn Hamburger Streichinstrumentenbauer. Sie gehört in Europa zu den renommiertesten Adressen, an die sich schon Yehudi Menuhin, Itzhak Perlman, Pinchas Zukerman, die japanische Meistergeigerin Midori, Tabea Zimmermann oder jüngst »Bratschenboy« David Aaron Carpenter gewandt haben – den letzteren hat Schwen unter anderem davor bewahrt, eine für 800.000 Dollar angebotene Fälschung des Stradivari-Lehrers Amati zu kaufen. Fälschungen zu erkennen, hat wiederum wenig mit Einfühlung zu tun. Sondern mit Wissen. Sehr viel Wissen – und da macht Eduard Schwen seinem Vor- und Familiennamen alle Ehre: Beide bedeuten: »Hüter«. Der Hüter des Geigenbauwissens, der in seiner raren Freizeit Cello im Arcademia-Orchester spielt, sich mit Tai Chi erdet oder nach Stuttgart zu seiner Lebensgefährtin (einer Violinistin) fährt, sieht einem Instrument sogar auf einem iPhone-Foto an, nach welcher Schule – Füssener? Cremona? oder doch im «musicon valley«, dem Vogtland? – es gebaut wurde. Welchen Lehrer und welches Ideal der Erbauer hatte, dem er nacheiferte: Stradivari, Gofriller, Montagnana, Stainer? Das Holz, f-Löcher, Leimsorte, Schnecke, die Art, wie der Lack aufgetragen wurde und die Stellen, an denen er abgerieben ist: all das erzählt ihm die Biografie des Instrumentes. Und was es wert ist – manchmal macht das weniger die Qualität des Instruments als seine geschichtliche Bedeutung aus. »Der Preis ist keine Garantie für besseres Klingen. Eine Stradivari für drei Millionen Euro muss objektiv nicht besser sein als eine Jacobus-Stainer für 300.000 – ein Musiker fühlt sich mit ihr nur vielleicht besser.« Letztlich ist es die menage à trois aus Instrument, Musiker und Bogen, die sich finden muss. Überhaupt, der Bogen – er ist die Geige, davon war schon Giovanni Viotti, Violin-Virtuose des 18. Jahrhunderts, überzeugt. Auch deswegen geht bei Luthier Schwen ständig die Messingklingel: Etwa 200 Instrumente, aber 300 Bögen hat er auf Lager, auch einige, die in der Tradition der »Tourte«-Bögen (den Stradivaris unter den »Streichprügeln«) gebaut wurden. Der große Norweger in Motorradkluft ist allerdings gekommen, um sich ganz neu zu verlieben. Er hat gerade ein Blind-Date mit einem Bass. Die satten Klänge, die er dem Korpus entlockt, bleiben nicht lange ohne Wirkung. Sein Blick färbt sich rosarot. Als er nach dem Preis des Edelstücks tastet – »Eighteen thousand?!« – »No, eighty thousand« – flackert das Rosa. Sich zu verlieben in einen, den man nicht haben kann, ist der süßeste Schmerz von allen.


Mit freundlicher Genehmigung von:
Der Hamburger
Peter Felske
Tel.: 040 / 30 99 879-0
Fax: 040 / 30 99 879-69
www.derhamburger.info


Autorin des Textes: Nina George

Spielmannsfiedel und Aristokratin

Eine kurze Geschichte der Geige

 

Von Eduard Schwen

 

Stellen Sie sich die märchenhafte Inszenierung einer Hochzeit vor: Der Königssohn ehelicht eine bezaubernde Prinzessin. Der Ballsaal ist dekoriert, das Orchester spielt zu Ehren der frisch Vermählten. Aber was hören wir? Einen Tusch der Blockflöten, Hörner spielen auf zum Tanz, und die Pikkoloflöte gibt den Rhythmus des Walzers vor.

 

Intuitiv spüren wir: So geht das gar nicht! Jedes Instrument hat eine gesellschaftliche Stellung und dementsprechend eine emotionale Bedeutung und Symbolik. Ursprünglich durch Tradition geprägt, ist diese so selbstverständlich, dass jeder, dem sie vertraut ist, die Botschaft sofort richtig versteht.Für viele Instrumente sind die Zuschreibungen eindeutig: Trompeten sind Signalinstrumente, die Hörner blasen zur Jagd. Trommeln und Querflöten wurden früher für das Kommando im Schlachtenlärm genutzt, das Saxophon gehört in den Jazz. Gamben wiederum, aber auch Tasteninstrumente, insbesondere die Orgel, sind „ordentliche“ Instrumente: Die feste Stimmung (durch Tasten und Bünde) bringt die Frequenzen der Töne in die göttliche Ordnung. Damit dient sie auch der Ordnung der Gesellschaft und jeder einzelnen Seele. Ähnliches gilt für die Lauten- Instrumente.


Wie also könnten wir Musik verstehen, wie sie genießen, wenn wir keine Wahrnehmung für diese kulturelle und soziale Bedeutung hätten? „Wahrnehmung“ bedeutet in diesem Zusammenhang viel mehr als nur die Fähigkeit des Hörens: Schließlich interpretieren wir das, was wir hören, vor dem Hintergrund dessen, was wir gelernt haben. Persönliche Vorlieben und Geschmack entstehen nicht im luftleeren Raum, sie sind auch Ergebnis kultureller Prägung. Dieser Text zeichnet die Kulturgeschichte der Violine, eines zentralen Instruments der westlichen Musik, nach. Symbole haben oft Qualitäten wie Archetypen: sie sind klar und fokussiert in ihren Bedeutungen, welche über Generationen allgemein verständlich sind, genauso wie die Tatsache, dass eine Sache zugleich für etwas anderes, Höheres steht. Einer derart verschlüsselten Bildsprache war in der Niederdeutschen Malerei eine ganze Kunstrichtung gewidmet: die Genre-Malerei. Auch wenn die Darstellungen häufig naturalistisch oder fast fotorealistisch sind, so ist ihre eigentliche Aussage auf der Meta-Ebene zu finden. Manchmal wird die Botschaft nur angedeutet: Bei der Darstellung eines Weintrinkers, leicht angeschickert und mit roter Nase, ist das Glas etwas zu groß. Manchmal ist im Hintergrund ein Radleierspieler zu sehen, später ein Geiger oder gar Gevatter Tod. Solche Zeichen verstanden die Zeitgenossen des Malers sofort: Es ging nicht darum, den Genuss zu feiern, sondern um eine moralisierende Warnung vor zu viel Alkoholkonsum. Wenn außerdem in der Ferne noch Bettler auf der Straße zu sehen waren, konnte jeder Betrachter erkennen, wohin so ein Verhalten gesellschaftlich führen könnte.


Für die Violine gilt diese Eindeutigkeit der Symbolik nicht. In Oberitalien stieg sie von der Geyge oder Fiedel der Spielleute zum höfischen Instrument auf. Unsere Zeit kennt ähnliche Entwicklungen: Um die Jahrtausendwende wurde bei der „Night of the Proms“ erstmals U-Musik aufgeführt, Stücke der Beatles waren für großes Orchester arrangiert worden; seitdem ist Rockund Popmusik beim klassischen Konzertpublikum viel besser angesehen. Und so wie Franz Schubert im frühen 19. Jahrhundert das Lied, das bis dahin gesellschaftlich nicht als besonders hochstehendes Genre geschätzt wurde, zu einer eigenen Kunstform erhob, so wurden im frühen 16. Jahrhundert Veranstaltungen organisiert, bei denen Tanzmusik nicht zum Tanzen für das sogenannte einfache Volk, sondern konzertant für die Aristokratie aufgeführt wurde. Mit einem Erfolg, der sich verselbständigte und die weitere Musikgeschichte prägte. In den ersten 100 Jahren, seit Geigenliteratur veröffentlicht wurde, waren neun von zehn Stücken Tänze. Der Tanz als vorherrschende Form hielt sich noch wesentlich länger: So war die Suite schlicht eine Folge verschiedener Tanzsätze. Nur wurden diese durch den veränderten Kontext der Aufführungsorte nicht mehr als Tanzmusik rezipiert, sondern als edle Kunst.
Infolge dieser Entwicklung erfuhr die gesamte Familie der Streichinstrumente eine Aufwertung. Ihre Mitglieder sind Violine beziehungsweise Geige, Viola oder Bratsche, das (Violon-)Cello und der (Kontra-)Bass. Die Anerkennung des Cellos brauchte etwas länger; in Frankreich konnte es sich erst im 19. Jahrhundert gegen die Gambe durchsetzen. Und der Kontrabass ist streng genommen baulich ein Zwitter zwischen Geige und Gambe, was durch die Quartstimmung und die hängenden Schultern des Umrisses deutlich wird. In der heutigen Form wurde der Kontrabass erst im späten 19. Jahrhundert standardisiert.


Dieser soziale Wandel der Violininstrumente zeigt sich nicht nur an der Aufführungspraxis. Auch die technische und handwerkliche Entstehungsweise der Instrumente änderte sich. Innerhalb der Gesellschaftsordnung der Stände – und auch der Zünfte – durfte nicht jeder alle Arbeiten ausführen. Schon damals waren Berufe geschützt. Spielleuten war es verboten, bestimmte Werkzeuge und Handwerkstechniken zu benutzen, denn sie waren keine „zünftigen“ Instrumentenbauer oder in Innungen organisierte Handwerker. Verleimen etwa war ihnen nur bedingt erlaubt. Also wurden die Vorläuferinstrumente der heutigen Violine durch Steckverbindungen zum Halten gebracht und mit Kitt und Lack stabilisiert. Diese Bauart ist im späten 15. Jahrhundert belegt und wurde in Ostpolen noch nach dem Zweiten Weltkrieg von ländlichen Musikern genutzt. Das erklärt übrigens die besondere Form der Violine mit den tangential zusammenlaufenden Zargenecken. Als im frühen 16. Jahrhundert Tanzmusik an den Fürstenhöfen in eigenen Konzerten aufgeführt wurde, musste dieser soziale Aufstieg auch in einer „ordentlichen“ Bauweise manifestiert werden. Dieser Evolutionsschritt fand im italienischen Sprachraum statt. Dort baute man Instrumente, die eine mit der Spielmannsfiedel fast identische Form hatten, nach allen Regeln der Handwerkskunst des Lautenbaus.


Ein Lautenkorpus, etwa in Form eines längs halbierten Eis, wird aus vielen dünnen, gebogenen Holzbrettchen, den sogenannten Spänen, verleimt; darauf kommt die Decke. Für das Aufbauen dieser Muschel benötigt man einen massiven Holzblock, dessen Gestalt genau dem Hohlraum des Korpusses entspricht. Über dieser Innenform werden die einzelnen Späne verleimt. Als Konsequenz daraus wurden auch weitere Details technisch anders gelöst, beispielsweise wurde die Verleimung des Halses mit dem Korpus am Oberklotz durch einen Eisennagel gesichert. Bei vielen anderen Instrumenten besteht der Korpus aus einem Kasten, der aus Boden, Seitenwänden (Zargen) und Decke aufgebaut ist. Damals war es üblich, die Zargen auf dem Boden aufzusetzen und den Korpus frei aufzubauen. Eine andere Möglichkeit ist, eine Außenform zu verwenden: in ein Holzbrett, dass so dick ist, wie die Zargen hoch, wird ein Loch in der Umrissform der Zargen gearbeitet. Das dient der präzisen Formtreue für das Biegen und Verleimen des Zargenkranzes.


Als Bund-Instrument stand die Laute symbolisch für etwas Göttliches. Indem ein der Spielmannsfiedel formgleiches Instrument in der Bautechnik der Lauten über eine Innenform gebaut wurde, kam jenes Instrument in die Welt, das wir als italienische Violine kennen. Die Geige nahm fortan eine Doppelrolle ein, denn sie wurde sowohl dem fahrenden Volk, mit denihm unterstellten niederen charakterlichen Qualitäten, als auch dem höchsten Stand der Aristokratie zugeordnet. Bis heute ist sie sowohl Zigeunergeige als auch Königin der Instrumente. Sie kann als Fiddle beim Irish Folk dabei sein und gleichzeitig das Soloinstrument schlechthin im westlichklassischen Konzertwesen verkörpern. In Form der virtuosen Violine ist das Teuflische durch den Teufelsgeiger salonfähig geworden.


Der Geigenbauer Andrea Amati (ca. 1505/10 bis 1577) schuf in dem oberitalienischen Städtchen Cremona ein Geigenmodell, das sich zum Vorbild für den höfischen Typus des Instruments entwickeln und für den Geigenbau bis in unsere Gegenwart maßstabsetzend werden sollte. Seitdem haben sich keine wesentlichen Änderungen an diesem Entwurf durchsetzen können. Sie wurden und werden kulturell nicht akzeptiert. Jede neugebaute Violine ist eine Kopie einer alten Violine. Durch diese Kontinuität wurde die italienische Violine zum Inbegriff des gesellschaftlich hochstehenden höfischen Instrumententypus, im Kontrast zu dem als vulgär angesehenen Typus der Spielleute. Neben dem Idealmodell von Amati führte auch die Vielzahl italienischer Musiker und Komponisten zu der besonderen Wertschätzung der italienischen Geige. Das kulturelle Leben in aristokratischen Kreisen war paneuropäisch. Für jeden Lebensbereich holte man Spezialisten aus verschiedenen Regionen Europas: Gute Köche kamen oft aus Frankreich oder dem Piemont, Seidensticker aus Lyon, Maler aus Holland und Venedig, Silberschmiede aus Nürnberg und Musiker eben aus Italien. Viele von ihnen bevorzugten Instrumente ihrer Landsleute. So floss viel Geld aus Gesamteuropa nach Italien; auf Grund der hohen Nachfrage entwickelte sich eine besonders gute Qualität, was wiederum die Nachfrage stimulierte.

 

Das hochgewölbte Amati-Modell konnte seine dominante Position so lange behaupten, bis ein eigensinniger Tiroler namens Jacobus Stainer (1617 bis 1683) dieses Modell qualitativ übertraf. Die von ihm entwickelte Form haben viele Geigenbauer nachgeahmt – auch italienische.

Stainer bediente das vorherrschende Klangideal, das von zeitgenössischen Quellen als silbrig, hell, fein und glockenartig beschrieben wurde. War der robustere Klang aus der Tradition der Spielmannsinstrumente gefragt, so wählte man Instrumente aus Brescia. Führend war in diesem Bereich Gasparo Bertolotti (1540 bis 1609), genannt „da Salò“ nach seiner Geburtsstadt, dessen Instrumente ebenfalls oft kopiert wurden. Ähnlich war es bei Instrumenten von dessen Schüler Maggini (1581 bis ca. 1632). In jüngerer Zeit hat die Forschung zahlreiche neue Erkenntnisse gewonnen. So haben Holzuntersuchungen ergeben, dass manche „seiner“ Instrumente gar nicht so alt sind, wie von Händlern oft behauptet. Wie man inzwischen weiß, haben einige Geigenbauer Instrumente im alten Brescianer Stil gefertigt, die den Originalen oft zum Verwechseln ähnlich sahen und über Generationen selbst als solche angesehen wurden. Einer von ihnen war Giovanni Battista Rogeri (ca. 1642 bis ca. 1705), ein Schüler von Andrea Amatis Enkel Nicolo (1596 bis 1684).


Es war die Zeit der Pest-Epidemien. Die Krankheit wütete damals in ganz Europa, die Po-Ebene war besonders schwer betroffen. Gab es Pestfälle, so wurden häufig ganze Städte in Quarantäne gestellt, innerhalb von ein bis drei Jahren starben üblicherweise zwischen 20 und 75 Prozent der Bevölkerung. Manche Städte wurden nach wenigen Jahren von einer weiteren Welle überrollt. Neben den menschlichen Tragödien waren auch die wirtschaftlichen Folgen dieser Seuche immens. Eine Konsequenz war, dass das Handwerksrecht angepasst wurde. Bis dahin war die Meisterausbildung an verwandtschaftliche Beziehungen gekoppelt: Der neue Meister musste Sohn eines Meisters sein, oder eine Meistertochter bzw. -witwe heiraten; Ausnahmen mussten teuer erkauft werden. Nun durften, da wegen der hohen Sterberate das Meisterwissen verlorenzugehen drohte, auch Nicht-Familienmitglieder ausgebildet werden. Nicolo Amati bildete viele später namhaft gewordene Geigenbauer aus, unter anderen auch Antonio Stradivari.
An letzterem zeigt sich eine weitere soziale Konsequenz der Pest. Auch wenn viele Menschen starben, so war die physische Infrastruktur noch existent. Also zogen „Fremde“ in die leerstehenden Häuser, oft Wirtschaftsflüchtlinge aus dem rauen, alpinen Umfeld: Matteo Goffriller in Venedig ist wahrscheinlich Matthias Gföller aus Füssen, aber wer konnte in Italien einen solchen Namen aussprechen? Pässe und Geburtsurkunden waren alles andere als selbstverständlich; manchmal wurden neue Identitäten erschaffen: Domenico Montagnana – ebenfalls in Venedig – kam, wie der Name sagt, aus den Bergen. Und Antonio kam die Straße daher: stradi vadi. Deshalb wissen wir bei den Genannten nichts über Herkunft, Eltern oder Geburtsnamen. So wird auch das Geburtsdatum von Antonio Stradivari auf Grund anderer Dokumente rekonstruiert, möglicherweise war es 1646. Oder doch 1644? Mit großer Wahrscheinlichkeit war Stradivari ursprünglich kein ausgebildeter Geigenbauer. Vieles spricht dafür, dass er Intarsienschreiner war, der von Nicolo Amati bei guter Auftragslage als Hilfsarbeiter eingesetzt wurde und später als Quereinsteiger neue Maßstäbe setzte. Der Cremoneser Zeitgenosse Giuseppe Guarneri (1698 bis 1744), genannt „del Gesù“, nimmt eine Sonderrolle im Geigenbau ein: Er war ein genialer und starrsinniger Mann, der sich sowohl mit seiner Familie als auch seinen Kollegen zerstritten hatte. Im romanischen Sprachraum versahen damals die Kirchen die gesellschaftlichen Funktionen, die im deutschen Sprachraum den Zünften zugeordnet waren. Guarneri verließ die Kirche der Geigenbauer und konvertierte zu den Jesuiten,die sowohl für Erziehung als auch Kunst und Kultur verantwortlich waren. Daher rührt sein Beiname „del Gesù“ – der Jesuit. Als solcher konnte er die Instrumente nicht so gut vermarkten, wie es ihrer Qualität entsprochen hätte. Er blieb lange verkannt. Um den Aufstieg Guarneris vom Außenseiter zum Star seiner Branche rankt sich eine Anekdote: Der als Teufelsgeiger berühmt gewordene Niccolò Paganini (1782 bis 1840) war dem Glücksspiel verfallen. Einmal soll er als letzten Einsatz beim Kartenspiel seine Geige gesetzt und verloren haben. Da er am Abend ein Konzert spielen sollte, fragte er seine Mitspieler, ob sie nicht jemanden wüssten, bei dem er eine Geige leihen könne. Sie trieben irgendeine Violine für ihn auf – zufällig war es eine del Gesù. Als deren Eigentümer Paganini im Konzert hörte, sagte er, er wolle diese Geige nie mehr anfassen, und vermachte das Instrument Paganini – so die Geschichte. Diese Violine von Giuseppe Guarneri del Gesù wurde das Lieblingsinstrument Paganinis. Wegen ihrer
hervorragenden Konzertqualitäten und Tragfähigkeit nannte er sie „Il Cannone“. Seitdem werden die Instrumente von del Gesù entsprechend ihrer Qualität wertgeschätzt und prägen den modernen Geigenbau. Heute gehören die Originale zu den wertvollsten Instrumenten überhaupt. Zurück zur Entwicklung bis zum Ende des klassischen italienischen Geigenbaus: das späte 17.
Jahrhundert brachte viele soziale Veränderungen mit sich. Jede für sich erscheint möglicherweise unbedeutend; zusammen bewirkten sie jedoch einen vollständigen gesellschaftlichen Wandel. So war bis dahin die Verwendung der Farbe Rot der Rechtsprechung vorbehalten. Genauso, wie wir uns heute nicht einfach so in einer Polizeiuniform im öffentlichen Raum zeigen dürfen, durfte damals die Farbe Rot nicht für andere Zwecke genutzt werden. Da ein König auch oberster Richter war, waren Königsroben rot oder purpur. Die Farbe sagte also etwas über den gesellschaftlichen Stand aus. Mit dem vermehrten Import chinesischer Lackschnitzerei und lackierter Schälchen ließ sich das Verbot immer weniger aufrechterhalten und wurde nach und nach aufgegeben. Gleichzeitig veränderte sich die Klangästhetik. Der klare, transparente Klang der Modelle von Amati und Stainer und der robuste, dunkle Klang der da Salò - Instrumente sollten in einer Synthese vereint werden. Viele Geigenbauer experimentierten mit breiteren oder größeren Korpusformen, Antonio Stradivari zog Modelle in die Länge und experimentierte seit den 1690er-Jahren mit einem verlängerten Korpus, bevor er das Modell „Grande“ erschuf. Allmählich veränderte sich der allgemeine Geschmack zugunsten des Stradivari-Modells. Welche Klangfarbe es war, die die Hörer damals bevorzugten, zeigt sich exemplarisch an den Violinkonzerten, in der Romantik setzte sich dieser Geschmack endgültig durch.


Auch die Aufführungspraxis veränderte sich: Höfische Musik wurde nicht mehr nur in Adelskreisen aufgeführt. Das aufsteigende Bürgertum und auch einzelne wohlhabende Bürger leisteten sich einen Lebensstil, der davor der Aristokratie vorbehalten gewesen war. Um das möglich zu machen, gründeten manche Vereinigungen. Die Berufsorganisation der Tuchmacher in Sachsen finanzierte ein Orchester, dessen Konzerte auch für das gemeine Volk zugänglich waren und das bis heute Bestand hat: das weltberühmte Gewandhausorchester zu Leipzig. Durch das Anwachsen der Orchester veränderten sich Klangideal und Kompositionsweise und damit wiederum die spieltechnischen Anforderungen.


So ist der Wandel der Vorliebe vom Amati-Stainer-Typus zum Modell Stradivaris nicht nur der Veränderung des Tonideals geschuldet, sondern auch der neuen Konzertkultur. Als Tanzinstrument waren eine hohe Durchsetzungsfähigkeit und Rhythmisierung wichtig gewesen, im höfischen Rahmen kam es mehr auf einen farbenreichen und variablen Klang an. Für Konzerte mit zahlreicherem Publikum in großen Sälen waren sowohl ein schöner Ton als auch Klangfülle und Strahlkraft gefragt.

Da gegen Ende des 18. Jahrhunderts alle Fürstenhöfe, die sich das leisten konnten, ein Orchester besaßen, ging der Bedarf an Instrumenten der alten Käuferschicht rapide zurück, was das Ende des klassischen italienischen Geigenbaus bedeutete.


In Frankreich fand die bürgerliche Revolution als erstes statt. Diese politischen Umwälzungen führten dazu, dass der gehobene Geigenbau im 19. Jahrhundert seinen Schwerpunkt in Frankreich hatte. Da die Farbe Rot nicht mehr der Jurisdiktion vorbehalten war, wurden viele Instrumente rot lackiert, häufig in einem satten Krapp-Rot. Auch das französische Tonideal setzte sich immer weiter durch: Klarheit und Präzision waren wesentliche Voraussetzungen für die Möglichkeit, technisch anspruchsvolle Konzerte aufzuführen.


In diese Periode fällt auch der Siegeszug des modernen Bogenbaus. In den früheren Jahrhunderten hatte eine schier unübersehbare Vielfalt an Bogentypen geherrscht. In Frankreich gab es eher kurze Bögen für schnelle Tanzmusik, in Italien lange Bogentypen für Serenaden; verschiedenste Materialien wurden verwendet; je nach Stand waren die Bögen von plump bis hochfein. Ein fast überall anzutreffendes Merkmal der frühen Bögen war jedoch, dass der Abstrich (die Bogenbewegung vom sogenannten Frosch, in dessen Nähe der Bogen gehalten wird, zur Spitze) laut und betont, der Aufstrich in umgekehrter Richtung dagegen leiser und damit unbetont war. Das entspricht der Physik der Bewegungsabläufe und hat die Vorstellung von Takt und Betonung über viele Epochen geprägt. Mit der Zeit wurden immer mehr Bogentypen gefragt, die an jeder Stelle und in jeder Bewegungsrichtung einen gleichmäßigen Ton ermöglichten, ähnlich einem Orgelton. Viele Bogenbauer experimentierten mit Länge, Gewicht, Kopfform, Verjüngung der Bogenstange und Material. In Frankreich war insbesondere François Xavier Tourte (1748 bis 1835) erfolgreich. Das von ihm entwickelte Bogenmodell ist weltweit zum Maßstab für Bogenbau geworden. Seit Tourte ist es auch Standard, brasilianisches Pernambuco-Holz zu verwenden.


Für das moderne Klangideal wurde nicht nur beim Instrumentenneubau das bevorzugte Modell der Konzertvioline verändert. Durch viele kleinere Veränderungen wurde ein Großteil der alten Instrumente restauratorisch an die moderne Bauweise angepasst. Die Bassbalken wurden durch etwas größere, massivere ersetzt. Alte Instrumente bekamen einen sogenannten Anschäfter: Der alte Wirbelkasten samt Schnecke wurde auf ein neues Stück Holz geleimt, der neue Hals wurde etwas länger und mit einem steileren Winkel in den Korpus eingepasst. Das bis dahin stark keilförmige Griffbrett wurde durch ein nahezu paralleles ersetzt, Stegmodelle wurden verändert und Saiten, Saitenhalter und Stimmstock angepasst.


Möglicherweise setzten sich die flacher gebauten Stradivari- und Guarneri-Typen auch deshalb durch, weil sich viele der Violinen, die im hochgewölbten Amati-Stainer-Typus gebaut waren, durch die Anpassung klanglich und spieltechnisch verschlechterten. Diese feinen Instrumente sind extrem sensibel dafür, ob alle Arbeiten perfekt aufeinander abgestimmt sind. Flachere Violinmodelle bieten diesbezüglich größere Arbeitstoleranzen.


Fast gleichzeitig mit dem Umbau der Instrumente kam die Bewegung der historisierenden Aufführungspraxis auf. Ihr Ideal: Musik sollte so aufgeführt werden, wie es zu ihrer Entstehungszeit üblich war. Folglich musizierte man auf unveränderten Originalinstrumenten, auf zurückgebauten Instrumenten der Originalepoche oder auf Nachbauten in der alten, barocken Baukonstruktion und mit Bögen der früheren Bauweise.


So erklärt sich ein weiteres Mal, weshalb die alten Meister zu allen Zeiten besondere Wertschätzung erfahren haben. Genial wie sie waren, wurde ihre Qualität in späteren Zeiten nur selten erreicht. Ihre Bauweise konnte allerdings auch deshalb nie übertroffen werden, weil die Beurteilungskriterien anhand derselben Traditionen gebildet wurden. Und da es zu allen Zeiten auch schlechte Geigenbauer gegeben hat, wird seit Generationen das – angebliche oder wirkliche – Geheimnis des alten italienischen Lackes kultiviert, jener Mythos, nach dem eine neue Geige nicht so gut klingen könne wie ein altes Cremoneser Instrument: Sie ist nicht über Jahrhunderte eingespielt worden, vor allem aber ist das geheime Lackrezept von Stradivari verloren.


In der Tat ist nicht im Detail bekannt, wie die alten Meister die Oberflächenbehandlung ausgeführt haben. Aber es gab nicht den einen klassischen italienischen Lack. Je nach Region, Zeit, Meister oder Epoche wurde sehr unterschiedlich lackiert, wie es das heutige Erscheinungsbild offenbart. Jedoch zeichnen sich alle klassischen italienischen Geigenlacke durch gemeinsame Besonderheiten aus, die seitdem nur selten erreicht wurden. So sind klassische italienische Instrumente nicht nur ästhetisch besonders schön, die Holzoberfläche hat oft eine außergewöhnliche Leuchtkraft; statistisch werden diese Instrumente viel seltener von Holzwürmern befallen als andere, Hitzeschäden am Lack sind rar. Auch wenn der eigentliche Farblack abgenutzt ist, so ist das Holz immer noch hervorragend geschützt. Diese Eigenschaften haben Instrumente aus Italien bis ca. 1770 aus unterschiedlichen Werkstätten gemein; sie unterscheiden sich zugleich von den meisten Lackierungen aus anderen Regionen und späteren Epochen. Das lässt darauf schließen, dass der Unterschied eher im methodischen Ansatz als in der Zusammensetzung des eigentlichen Farblackes zu liegen scheint.


Die ersten systematischen Forschungen wurden, soweit bekannt, bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts von Graf Salabue in Auftrag gegeben – ebenjenem Salabue, der nach dem Tod der Stradivari-Söhne die komplette Werkstatt samt Inhalt aufkaufte. Aus heutiger Sicht wurde in diesen Jahren noch ganz im klassischen Stil gearbeitet, trotzdem konnte Graf Salabue das „Geheimnis“ nicht lüften. Vielleicht war es auch kein Geheimnis im strengen Sinn, sondern war vermutlich etwas, das allgemein bekannt war und dessen besondere Qualitäten erst durch den Alterungsprozess offensichtlich wurden. Eventuell wurden auch weitere Arbeitsschritte ausgeführt, die einem anderen Zweck dienten: So kann Borax als Anti-Wurm-Mittel eingesetzt werden, es verändert aber auch die Feuchtigkeitsaufnahme und damit die Resonanzfähigkeit des Holzes. So eine Tradition könnte durch Rationalisierungsmaßnahmen ins Vergessen geraten sein.


Ein sehr vielversprechender Ansatz beim Lackieren ist, ähnlich wie in der Kunstmalerei, mit einer mineralischen Zwischenschicht als Grundierung zu arbeiten. Je nach Rezeptur scheint dieses Vorgehen auch überdurchschnittlich gute Klang- und Spieleigenschaften zu bewirken. Der Autor dieser Zeilen konnte in jahrzehntelanger Forschung anhand alter Rezepte und Handwerkstechniken und vieler Versuche Methoden rekonstruieren, die offensichtlich die Schwingungseigenschaften von Holz – und damit auch der Instrumente – verbessern.


Seit der Erfindung der Violine haben sich sowohl das Klangideal als auch die Aufführungspraxis verändert. Diese Veränderungen gingen Hand in Hand mit der Entwicklung der Musik. Zeitgenössische Instrumente wurden entsprechend der jeweiligen Mode gebaut und die alten Instrumente durch Umbauten adaptiert. Orchesterkonzerte entwickelten sich zu Großveranstaltungen, gleichzeitig wurde immer mehr Hausmusik aufgeführt. War diese bis dahin eher der als niederer Kunst angesehenen Volksmusik zugeordnet worden, wie etwa die sogenannte Stubenmusik in Tirol, so entstanden nun immer mehr Hausmusikkreise höchster Qualitätsstandards. Waren diese institutionalisiert, dann konnte der Musikgenuss über den Freundeskreis hinaus einem öffentlichen Publikum ermöglicht werden. Im Zuge dieses gesellschaftlichen Wandels wurden für diese Zwecke auch Vereine gegründet, unter anderem die Hamburgische Vereinigung von Freunden der Kammermusik e.V. im Jahr 1922.


Dieser Text ist für die Jubiläumsfeier 100 Jahre Hamburgische Vereinigung von Freunden der Kammermusik geschrieben und wurde neben vielen anderen Artikeln in dem Buch „Es ist das Leben“ August 2022 veröffentlicht.


ISBN-10 : 3948272212 ISBN-13 : 978-3948272210

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